Ulrich Sutter mit Tochter Heidi und Frau Emma 1931

Lebenslauf von Ulrich Sutter, Architekt, St. Gallen (1882 – 1966)

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Mein Lebenslauf ist ...

Ich erblickte das sog. Licht der Welt am 9.Sept. 1882 in Cuorgnè (Piemont), wo mein Vater an der Schweizerschule des Cotonificio di Cuorgnè (einer von Schweizern geleiteten grossen Baumwollspinnerei) als Lehrer wirkte. Da meine Mutter nach 12 Tagen am Kindbettfieber starb, musste mein Vater mich bei einer Bäuerin als Amme unterbringen, die mich mit einem Milchbruder bis ich zwei Jahre alt war, bestens betreute. Ich lernte zuerst piemontesisch sprechen und erst als mein Vater sich nach zwei Jahren wieder verheiratet hatte, wurde ich langsam mit dem Deutschen vertraut. Meine erste Schweizerreise erfolgte im Jahre 1885 nach Versam-Tenna, wo ich in den drei Monaten meine Kenntnisse im Deutschen vervollkommnete. In der Folge reisten wir etwa alle 2 - 3 Jahre nach der Heimat.

Vom Jahre 1888 bis 1896 besuchte ich bei meinem Vater an obiger Schule die Primarschule. Wir waren nur 4 - 6 Schüler im Ganzen und lernten natürlich viel, so dass mit Privatstunden im Französischen ich am 10. - 12. September 1896 die Aufnahmeprüfung in die II. Klasse der Kantonsschule in Chur bestehen konnte.

Ich glaubte dann den techn. Beruf erwählen zu müssen, da ich einigermassen gut zeichnen zu können glaubte. Ohne Schwierigkeiten durchlief ich die techn. Abteilung der Kantonsschule und erwarb mir die techn. Matura II. Grades, am 13. Juli 1901. Fast hätte es mir blühen können, noch kurz vor der Matura, die Schule verlassen zu müssen, denn auf den Zofingerball am 2. März 1901 mussten wir üben, singen und trinken bis in die tiefe Nacht hinein, so dass die Schulaufgaben etc. darunter leiden mussten. Während nun Klassengenosse & Farbenbruder S. Stampa zufolge allzugrossen Sichgehenlassens den Abschiedsbrief von der Schule erhielt, wurde ich davon verschont, denn die dringendsten Arbeiten hatte ich auch in dieser Sturmzeit ausgeführt, so dass die Lehrerschaft meine Zugehörigkeit kaum merkte, und ich so die Kantonsschule in Ehren beenden konnte.

Nun kam die Zeit des Militärdienstes. H. Heierli, J. Giacometti und ich glaubten einen Nutzen zu haben, wenn wir gleich nach der Matura die Rekrutenschule bestehen könnten und so meldeten wir uns schon  mit 18 Jahren zur Aushebung, wurden angenommen, zu den Sappeuren eingeteilt und so durften wir 2 Tage nach der Matura, 19 jährig, in die Rekrutenschule nach Liestal mit 6 Tagen Verspätung einrücken. Für mich musste mein Vater in Italien zuerst meine Zugehörigkeit zur Schweiz anmelden, denn laut Code Napoleon bin ich eigentlich Italiener und schon im Rekrutenverzeichnis aufgeführt gewesen, weil ich in Italien geboren wurde. Was hätte mein Leben für eine Wendung genommen, wenn die Option für die Schweiz nicht erfolgt wäre?

Im Herbst 1901 gings nun mit frischem Mute ins I. Semester der Bauschule des Polytechnikums. Dieses Studium endete programmgemäss nach 8 Semestern mit dem Diplom als Architekt, 1905. Mit Rücksicht auf die Erfahrungen in Chur hatte ich freiwillig darauf verzichtet, in einer Verbindung aktiv mitzumachen. Ich fand dafür bei Bündnern und St. Gallern frohe Kameradschaft.

Da die Schulordnung für das Poly kein Praxisjahr für die Bauschüler verlangte, begann nun für mich die Aufgabe, mich von Grund auf in den Beruf einzuarbeiten. Einstweilen musste ich die Unteroffiziersschnüre abverdienen im Sommer 1905. Da die Stellensuche im Herbst keinen Erfolg hatte, reiste ich nach Piemont und machte Architekturstudien daselbst. Im Februar 1906 konnte ich bei Locher & Co in Zürich eintreten, bis zum Juli 1906, dann gings in die Genieoffiziersbildungs-Schule 1906, die sehr interessant war und mit Erfolg beendet wurde. Von den Sappeuren des Geniehalbbat. 8 wurde ich dann zur damals einzigen Ballonkompanie eingeteilt, mit welcher Einheit ich alle weiteren Dienste machte. Im Nov.1906 kam ich dann nach Schaffhausen auf das Architekturbüro Werner, mit grossem Arbeitsfeld & interessanten Aufgaben. Ich blieb dort bis zum Ausbruch des Weltkriegs 1914.

Obwohl der berühmte grüne Zweig erst am Knospen war, verehelichte ich mich 1909 mit Frl. Wirth, einer App. A.Rh., die ich in Zürich kennengelernt hatte. Wir wohnten in Feuerthalen. Uns wurde 1911 ein Sohn, (jetzt Ing. in Teheran) und 1912 eine Tochter geschenkt, die Säuglingspflegerin ist.

In der Ballonkompanie & nachher im Aeroklub der Schweiz wurde ich Ballonführer, welchen Sport ich gerne trieb, ca. 30 kürzere und längere Freifahrten ausführte, Tag- und Nachtfahrten bis 18 Stunden Dauer, ohne Unfälle; leider führte mich keine nach Graubünden. Überhaupt war damals der Zusammenhang mit Graubünden ganz locker, erst von 1914 weg kam ich öfters nach Graubünden, da ich für meine Eltern in Versam ein Haus gebaut hatte & sie ihren Wohnsitz dorthin verlegten.

Der Aktivdienst führte unsere Ballonkompanie nach Ajoie (Pruntrut) bis Mai 1915, dann meldete ich mich zur Fortifikation Murten als Bauoffizier, bis 1917 im März. Ich traf daselbst H. Heierli in gleicher Eigenschaft, wie viele andere, die zufolge des Krieges keine Beschäftigung hatte, er meinte einmal, er hätte nie geglaubt, dass man um den Oberleutnant-Grad noch froh sein könnte.

1917 fand ich mich wieder ins Zivil zurück, in ein Holzbaugeschäft nach St. Gallen bis 1918. Bei Liquidation des Krieges war ich Zugskommandant bei den Gefangenentransporten von Konstanz aus nach Pontarlier, Genf, Domodossola, Chiasso, von Davos mit Kranken nach Konstanz, von Annecy mit Evakuierten nach Buchs, ein bewegtes Leben, bei welchem man viel Leid sah.

1919 eröffnete mein Studienfreund E. Fehr in St, Gallen ein Büro, wo ich als Mitarbeiter eintrat, Wohnquartiere, Kinder- und Erholungsheime, Kirchenrenovationen, Geschäftshäuser, Ladenumbauten, Landhäuser, Fabrikumbauten, etc. wechselten in der Folge ab mit Konkurrenzprojekten aller Art, eine schöne arbeitsreiche Zeit, die bis jetzt dauerte. Leider scheint gegenwärtig eine grössere Pause im Baugewerbe einzutreten (Winter 1937).

Dies ist das äussere und berufliche Leben. Punkto Weltanschauung melde ich folgendes: Von der Konfirmandenlehre des lieben Pfarrer Hosang blieb nichts zurück, durch Studium der Bücher von Häckel etc. (Monismus) wurde ich Realist, verzichtete bei der Trauung und bei den Kindern auf den Dienst der Kirche und wurde frei von allen diesen verschiedenen Lehren. Durch Studium über Gesundheitswesen im Verein zur Hebung der Volksgesundheit, dessen Mitglied ich schon seit 1909 bin, habe ich mir über die Lebensweise etc. meine eigenen Gedanken gemacht, auf das Rauchen verzichtet & nur ganz ausnahmsweise alkoholhaltige Getränke genossen, ebenso fast ausschliesslich ohne Fleisch gelebt.

Bis jetzt war es ein schönes Leben, ohne Leid und Erschütterungen, möchte es in diesem Sinne weiter angenehm verlaufen, das sei mein Wunsch.

St. Gallen, den 8. Dez. 1937